Veröffentlicht am Mai 11, 2024

Die wahre Kontrolle über Ihr Streaming-Verhalten erlangen Sie nicht durch eiserne Disziplin, sondern indem Sie die psychologischen Mechanismen der Plattformen verstehen und gezielt für sich nutzen.

  • Das endlose Angebot führt zu „Decision Fatigue“ (Entscheidungsmüdigkeit), die uns paradoxerweise davon abhält, überhaupt etwas zu schauen.
  • Funktionen wie Autoplay sind gezielte „Nudges“, die unsere passive Zustimmung ausnutzen, um die Sehdauer künstlich zu verlängern.

Empfehlung: Behandeln Sie Ihre Watchlist nicht als unendliche Ablage, sondern als eine aktiv kuratierte Auswahl – das ist Ihr erster Schritt zur algorithmischen Souveränität.

Es ist ein allzu vertrautes Szenario: Nach einem langen Tag wollen Sie nur noch entspannen und einen Film schauen. Doch dann beginnt das Ritual des endlosen Scrollens. Sie navigieren durch unzählige Kacheln, springen von Kategorie zu Kategorie, schauen Trailer an und lesen Inhaltsangaben. Eine halbe Stunde später sind Sie frustrierter als zuvor und greifen entnervt zur Fernbedienung, um alles auszuschalten. Sie haben mehr Zeit mit der Suche verbracht als mit dem eigentlichen Schauen. Dieses Gefühl der Überforderung und Unzufriedenheit ist kein persönliches Versagen, sondern das Ergebnis einer gezielt gestalteten Umgebung.

Die üblichen Ratschläge sind schnell zur Hand: Setzen Sie sich Zeitlimits, deaktivieren Sie die Autoplay-Funktion oder machen Sie eine digitale Diät. Diese Ansätze behandeln jedoch nur die Symptome, nicht die Ursache. Sie gehen davon aus, dass Ihnen die Willenskraft fehlt, während das eigentliche Problem in der raffinierten Entscheidungsarchitektur der Streaming-Plattformen liegt. Diese Dienste sind nicht darauf optimiert, Ihnen den bestmöglichen Film zu präsentieren, sondern Ihre Aufmerksamkeit so lange wie möglich zu binden.

Doch was wäre, wenn die Lösung nicht darin bestünde, sich selbst zu geißeln, sondern die Spielregeln zu verstehen und zu Ihrem Vorteil zu nutzen? Wenn Sie vom passiven Konsumenten zum aktiven Inhalts-Kurator werden könnten? Dieser Artikel bricht mit der Vorstellung, dass Sie das Problem sind. Stattdessen deckt er die psychologischen Trigger und Mechanismen auf, die Ihr Verhalten steuern. Er zeigt Ihnen, wie Sie die Kontrolle zurückgewinnen, nicht durch Verzicht, sondern durch bewusste Gestaltung Ihres Streaming-Erlebnisses. Sie lernen, wie Sie den Algorithmus für sich arbeiten lassen, statt von ihm gesteuert zu werden.

In den folgenden Abschnitten werden wir die psychologischen Fallen aufdecken, die hinter dem endlosen Scrollen stecken, und Ihnen konkrete Strategien an die Hand geben, um Streaming wieder zu einer echten Bereicherung zu machen.

Warum Sie 45 Minuten scrollen statt 90 Minuten einen Film schauen – die Psychologie der Endlosauswahl?

Das Gefühl, von der schieren Menge an Filmen und Serien auf Streaming-Plattformen gelähmt zu sein, ist keine Einbildung. Es ist ein psychologisches Phänomen, das als „Paradox of Choice“ bekannt ist. Die Annahme, dass mehr Auswahl automatisch zu mehr Zufriedenheit führt, ist ein Trugschluss. Eine berühmte Studie der Columbia University mit Marmeladensorten hat dies eindrucksvoll belegt: Ein Stand mit 24 Sorten zog mehr Interessenten an, doch nur 3 % kauften. Bei einem Stand mit nur sechs Sorten lag die Kaufquote bei 30 %. Übertragen auf Netflix & Co. bedeutet das: Das unendliche Angebot überfordert unser Gehirn und führt zu Handlungsunfähigkeit.

Dieser Zustand wird durch die Decision Fatigue, also Entscheidungsmüdigkeit, noch verstärkt. Unser Gehirn verfügt nur über eine begrenzte Kapazität für Entscheidungen pro Tag. Laut Forschung treffen wir täglich Tausende von Entscheidungen, von trivialen bis hin zu wichtigen. Jede weitere Wahl, selbst die scheinbar harmlose Frage „Was schaue ich heute Abend?“, zehrt an dieser kognitiven Ressource. Wenn wir abends erschöpft vor dem Bildschirm sitzen, ist unser Entscheidungskonto bereits leer. Das Resultat: Wir scrollen endlos, weil die einfachste Entscheidung ist, keine Entscheidung zu treffen.

Die Plattformen sind sich dieser Mechanismen bewusst. Die Benutzeroberfläche ist darauf ausgelegt, uns im Auswahlprozess zu halten. Ständig neue Vorschläge, dynamisch geladene Listen und personalisierte Kategorien erzeugen die Illusion von unendlichen Möglichkeiten. Doch in Wahrheit führt diese Überstimulation dazu, dass, wie eine Analyse zum Phänomen zeigt, Netflix-Nutzer den Dienst frustriert schließen, ohne überhaupt Inhalte konsumiert zu haben. Das System ist so konzipiert, dass die Suche selbst zur Hauptbeschäftigung wird – eine Beschäftigung, die uns auslaugt, anstatt uns zu unterhalten.

Die Erkenntnis, dass nicht Ihre Willensschwäche, sondern eine gezielte psychologische Architektur für Ihre Frustration verantwortlich ist, ist der erste Schritt zur Rückeroberung Ihrer Zeit und Aufmerksamkeit.

Wie Sie eine „Zu-Schauen-Liste“ aufbauen, die Sie wirklich abarbeiten – statt zu scrollen?

Die Watchlist, bei Netflix „Meine Liste“ genannt, sollte Ihr stärkstes Werkzeug gegen die Entscheidungsmüdigkeit sein. Doch für die meisten Nutzer verkommt sie schnell zu einem digitalen Friedhof – eine unübersichtliche Ansammlung von Titeln, die man „irgendwann mal“ schauen wollte. Der Schlüssel liegt darin, diese Liste nicht als passiven Speicher, sondern als aktiv kuratiertes Instrument zu begreifen. Anstatt wahllos alles hinzuzufügen, was interessant aussieht, behandeln Sie Ihre Liste wie ein persönliches Filmfestivalprogramm, das Sie selbst zusammenstellen.

Eine bewusste Kuration beginnt damit, die vorhandenen Filterfunktionen strategisch zu nutzen. Viele Dienste, wie Netflix, ermöglichen es mittlerweile, die Liste nach verschiedenen Kriterien zu sortieren, etwa nach Veröffentlichungsdatum, Genre oder ob Sie einen Titel bereits begonnen haben. Nutzen Sie diese Werkzeuge, um Ordnung zu schaffen. Erstellen Sie gedankliche Unterkategorien: „Filme für den Feierabend“, „Anspruchsvolle Dokus fürs Wochenende“, „Serien zum nebenbei Schauen“. Diese mentale Struktur hilft Ihnen, im entscheidenden Moment schnell den passenden Inhalt für Ihre aktuelle Stimmung zu finden.

Nahaufnahme von Händen, die Karteikarten mit Filmtiteln in verschiedene Kategorien sortieren

Wie das Bild metaphorisch zeigt, geht es darum, aktiv zu sortieren und Prioritäten zu setzen, anstatt sich von der Flut treiben zu lassen. Ein weiterer entscheidender Schritt ist die regelmäßige Pflege. Nehmen Sie sich einmal im Monat zehn Minuten Zeit, um Ihre Liste zu bereinigen. Fragen Sie sich bei jedem Titel: „Will ich das wirklich noch sehen oder war das nur eine spontane Laune?“ Seien Sie rigoros. Ein Titel muss bei Netflix manuell entfernt werden, was diesen Prozess zu einer bewussten Handlung macht. Eine kurze, übersichtliche Liste mit 5-10 hochrelevanten Titeln ist unendlich wertvoller als eine mit 100 vagen Möglichkeiten.

So wird die Liste von einer Quelle der Überforderung zu Ihrem persönlichen Guide, der Ihnen hilft, die Kontrolle zurückzugewinnen und endlich wieder das zu tun, wofür Sie den Dienst abonniert haben: großartige Filme und Serien zu genießen.

Viele Serien anspielen versus wenige Meisterwerke vollständig – was bereichert wirklich?

In einer Kultur, die von FOMO („Fear Of Missing Out“) angetrieben wird, scheint es verlockend, jede neue Hype-Serie zumindest anzuspielen. Man möchte mitreden können, auf dem neuesten Stand sein. Doch dieser Drang zur Breite führt oft zu einer oberflächlichen Auseinandersetzung mit dem Medium. Man sammelt Anfänge von Geschichten, ohne jemals in die Tiefe einer gut erzählten Welt einzutauchen. Die Frage ist also: Bereichert es uns mehr, zehn Serien begonnen oder zwei Meisterwerke wirklich verstanden zu haben?

Die Wissenschaft liefert eine klare Antwort zugunsten der Tiefe. Eine australische Studie der Universität Melbourne untersuchte die Gedächtnisleistung von Binge-Watchern im Vergleich zu Zuschauern, die eine Serie wöchentlich verfolgten. Unmittelbar nach dem Schauen konnten sich die Binge-Watcher besser an Details erinnern. Doch nach 140 Tagen war die Erinnerung bei den wöchentlichen Zuschauern noch präsent, während sie bei den „Dauerschauern“ fast vollständig verblasst war. Dies deutet darauf hin, dass die Pausen zwischen den Episoden dem Gehirn Zeit geben, das Gesehene zu verarbeiten, zu reflektieren und tiefer im Gedächtnis zu verankern.

Dieser Befund deckt sich mit grundlegenden Erkenntnissen der kognitiven Psychologie. Wie Edgar Erdfelder, Leiter des Lehrstuhls für kognitive Psychologie an der Universität Mannheim, zusammenfasst:

Der Mensch lernt besser, wenn er sich den Stoff aufteilt. Zu viel Input auf einmal führt dazu, dass relevante Infos schlechter verarbeitet werden.

– Edgar Erdfelder, Universität Mannheim

Sich auf wenige, sorgfältig ausgewählte Serien oder Filme zu konzentrieren und diese vollständig und mit Pausen zu genießen, führt also nicht nur zu einem nachhaltigeren Erlebnis, sondern auch zu einer tieferen emotionalen und intellektuellen Verbindung. Es ist der Unterschied zwischen dem Sammeln von Postkarten und dem tatsächlichen Bereisen eines Landes. Nur wer sich Zeit nimmt, kann die Nuancen einer Geschichte, die Entwicklung von Charakteren und die thematische Komplexität wirklich wertschätzen.

Letztendlich ist es diese tiefgehende Auseinandersetzung, die im Gedächtnis bleibt und uns kulturell bereichert, nicht die flüchtige Kenntnis unzähliger Pilotfolgen.

Die Autoplay-Falle – warum Sie 5 Episoden schauen, obwohl Sie nur eine wollten?

Der kleine Countdown-Timer, der am Ende einer Episode erscheint, bevor die nächste automatisch startet, ist eine der wirksamsten und zugleich heimtückischsten Funktionen von Streaming-Diensten. Was als bequemer Service getarnt ist, ist in Wahrheit ein mächtiger psychologischer „Nudge“ – ein sanfter Stupser, der unser Verhalten in eine gewünschte Richtung lenkt. Diese Funktion nutzt unsere natürliche Neigung zur Passivität aus. In dem kurzen Moment zwischen dem Ende einer Episode und dem Start der nächsten ist der Weg des geringsten Widerstands, einfach nichts zu tun und weiterschauen zu lassen.

Die Entscheidung, aktiv auf „Stopp“ zu drücken, erfordert eine bewusste Anstrengung – eine Anstrengung, für die unser ermüdetes Gehirn am Abend oft keine Kapazität mehr hat. So werden aus der geplanten einen Episode schnell zwei, drei oder mehr. Man rutscht in eine Binge-Watching-Session, ohne es aktiv entschieden zu haben. Die Plattform hat die Entscheidung für uns getroffen. Die Konsequenzen sind messbar: Laut einer Studie der American Academy of Sleep Medicine haben bereits 88 % der Erwachsenen zwischen 18 und 44 Jahren auf Schlaf verzichtet, um eine Serie weiterzuschauen – oft befeuert durch die Autoplay-Funktion.

Das Deaktivieren dieser Funktion ist daher kein bloßer technischer Kniff, sondern ein symbolischer Akt der Selbstbestimmung. In den Kontoeinstellungen der meisten Dienste (wie Netflix) lässt sich das automatische Abspielen der nächsten Folge mit wenigen Klicks unterbinden. Dieser einfache Schritt verändert die Dynamik fundamental: Am Ende jeder Episode werden Sie nun gezwungen, eine aktive Entscheidung zu treffen: „Will ich wirklich noch eine Folge sehen?“ Diese kurze Unterbrechung gibt Ihnen die Kontrolle zurück und verwandelt den passiven Konsum wieder in eine bewusste Handlung.

Es ist ein kleiner Klick mit großer Wirkung, der Ihnen hilft, Ihre eigenen Grenzen zu setzen und zu verhindern, dass der Algorithmus die Kontrolle über Ihren Abend – und Ihre Nachtruhe – übernimmt.

Wann Sie streamen sollten für maximalen Genuss – und wann es Ihr Leben sabotiert?

Die Frage ist nicht nur, *was* Sie streamen, sondern auch *wann*. Der Zeitpunkt Ihres Medienkonsums hat einen erheblichen Einfluss darauf, ob er zu einer echten Bereicherung oder zu einer Quelle von Stress und Prokrastination wird. Wie wir bereits gesehen haben, nimmt unsere Fähigkeit, gute Entscheidungen zu treffen, im Laufe des Tages ab. Streaming am späten Abend, wenn unsere kognitive Belastung am höchsten ist, führt daher oft zu unbefriedigenden Entscheidungen, endlosem Scrollen oder passivem Binge-Watching.

Eine faszinierende US-Studie über die Urteile von Richtern illustriert dieses Prinzip perfekt: Morgens, wenn sie ausgeruht waren, gewährten die Richter in rund 70 % der Fälle eine Bewährung. Gegen Ende des Tages sank diese Rate auf unter 10 %. Sie griffen auf die einfachste, „sicherste“ Standardentscheidung zurück. Genauso greifen wir abends zur einfachsten Option: eine weitere Folge der bereits laufenden Serie oder ein belangloser Film, anstatt etwas Neues und potenziell Bereicherndes auszuwählen. Das Streaming sabotiert uns, wenn es als Füllmaterial für unsere erschöpften Momente dient.

Makroaufnahme eines handgeschriebenen Kalenders mit markiertem Filmabend-Termin

Der Weg zu maximalem Genuss liegt darin, Streaming aus der Passivität zu holen und es zu einem bewussten Konsum-Ritual zu erheben. Anstatt es als Lückenfüller zu nutzen, planen Sie es wie einen Kinobesuch. Verabreden Sie sich mit sich selbst (oder mit anderen) zu einem Filmabend. Tragen Sie es in Ihren Kalender ein. Schaffen Sie eine angenehme Atmosphäre, legen Sie das Smartphone beiseite und widmen Sie dem Film Ihre volle Aufmerksamkeit. Dieser bewusste Rahmen wertet das Erlebnis auf und signalisiert Ihrem Gehirn, dass dies eine besondere Zeit für Genuss und nicht für passive Berieselung ist.

Indem Sie Streaming zu einem geplanten Ereignis machen, stellen Sie sicher, dass es Ihr Leben bereichert, anstatt es unbemerkt zu sabotieren – insbesondere in einer Zeit, in der Deutsche laut DKV-Report 2023 bereits durchschnittlich 9,2 Stunden pro Tag sitzen.

Warum Ihre Streaming-Empfehlungen Sie kulturell verarmen lassen – die Filterblase der Algorithmen?

Die personalisierten Empfehlungen von Streaming-Diensten fühlen sich oft wie Magie an. Der Algorithmus scheint genau zu wissen, was uns gefällt. Doch diese maßgeschneiderte Bequemlichkeit hat einen hohen Preis: Sie schließt uns in eine Filterblase ein. Algorithmen sind darauf trainiert, Muster in unserem bisherigen Verhalten zu erkennen und uns mehr von dem zu geben, was wir bereits mögen. Wenn Sie viele Science-Fiction-Filme schauen, wird Ihnen die Plattform vor allem weitere Science-Fiction-Filme vorschlagen. Das Ergebnis ist eine algorithmische Echokammer, die unseren Horizont verengt, anstatt ihn zu erweitern.

Diese Verengung führt zu einer schleichenden kulturellen Verarmung. Wir entdecken seltener Filme aus anderen Ländern, experimentelle Formate oder Genres, die außerhalb unserer Komfortzone liegen. Die Vielfalt des weltweiten Filmschaffens wird auf einen kleinen, berechenbaren Ausschnitt reduziert. Der Algorithmus optimiert auf Engagement, nicht auf kulturelle Bereicherung oder intellektuelle Herausforderung. Selbst innerhalb dieser Blase kann die schiere Menge an ähnlichen Optionen überwältigend sein, was die Entscheidungsmüdigkeit weiter befeuert. Eine Umfrage des Digitalverbands Bitkom ergab, dass sich bereits 20 Prozent angesichts des großen Angebots manchmal gar nicht entscheiden können und das Gerät frustriert wieder ausschalten.

Ein Blick auf die Nutzungsdaten in Deutschland zeigt, wie konzentriert die Quellen unserer digitalen Inhalte sind und wie dominant wenige große Plattformen unseren Medienkonsum prägen.

Streaming-Nutzung nach Plattformen in Deutschland
Plattform Nutzung Deutschland International
YouTube 80% 83%
Facebook 51% 67%
Amazon Video 21% 18%
Netflix 18% 39%

Diese Konzentration verstärkt die Macht der jeweiligen Algorithmen, unseren kulturellen Geschmack zu formen. Wenn ein Großteil der Bevölkerung seine Inhalte aus denselben, algorithmisch gesteuerten Quellen bezieht, führt dies unweigerlich zu einer Homogenisierung der kulturellen Konversation.

Nur wer aktiv nach Inhalten außerhalb der vorgeschlagenen Pfade sucht, kann die wahre Vielfalt der Medienlandschaft entdecken und sich vor einer algorithmisch verordneten Monokultur schützen.

Wie Sie Ihren Remote-Arbeitstag strukturieren – damit Prokrastination keine Chance hat?

Die Freiheit des Remote-Arbeitens ist ein zweischneidiges Schwert. Ohne die feste Struktur eines Büroalltags verschwimmen die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, und die Verlockung, „nur mal kurz“ eine Folge der Lieblingsserie zu schauen, wird zur ständigen Bedrohung für die Produktivität. Streaming-Dienste werden so schnell zum Hauptverursacher für Prokrastination. Der Schlüssel zur Selbstkontrolle liegt hier nicht in Verboten, sondern in einer bewussten Strukturierung des Tages, die sowohl konzentrierte Arbeitsphasen als auch geplante Pausen vorsieht.

Anstatt YouTube oder Netflix als endlosen Stream zu konsumieren, der jederzeit verfügbar ist, lohnt es sich, bewusste Seh-Einheiten zu etablieren. Ein Nutzer beschreibt diesen Wandel so:

Anstatt YouTube als endlosen Stream zu konsumieren, lohnt es sich, bewusste Viewing-Sessions zu etablieren. Dies verbessert die digitale Selbstkontrolle und führt zu aktiven Entscheidungen über Zeit und Aufmerksamkeit.

– Digitaler Feierabend als Lösung, MyThai Nürnberg Blog

Diese Herangehensweise verwandelt passiven Konsum in eine geplante Belohnung. Der „digitale Feierabend“ wird zu einem festen Ritual, das den Arbeitstag klar abschließt und verhindert, dass die Arbeit in den Abend und das Streaming in den Nachmittag hineinblutet. Techniken wie die Pomodoro-Methode, bei der sich intensive Arbeitsphasen mit kurzen Pausen abwechseln, helfen dabei, die kognitive Energie über den Tag zu erhalten und die Anfälligkeit für Ablenkungen zu reduzieren.

Ihr Aktionsplan: Den Arbeitstag bewusst strukturieren

  1. Arbeitsblöcke definieren: Planen Sie Ihren Tag in festen Blöcken (z.B. 50 Minuten Arbeit, 10 Minuten Pause) mithilfe der Pomodoro-Technik.
  2. Pausen aktiv gestalten: Nutzen Sie Pausen für bewusste Erholung abseits des Bildschirms. Eine kurze „Green Break“ in der Natur kann den Stresspegel messbar senken.
  3. Entscheidungen priorisieren: Treffen Sie wichtige, anspruchsvolle Entscheidungen am Vormittag, wenn Ihre kognitive Energie am höchsten ist.
  4. Feierabend-Ritual etablieren: Definieren Sie ein klares Ende Ihres Arbeitstages. Das kann das Zuklappen des Laptops oder ein kurzer Spaziergang sein, der signalisiert: Jetzt beginnt die Freizeit.
  5. Streaming als Belohnung: Planen Sie Ihre Streaming-Zeit bewusst nach dem Feierabend ein, anstatt sie als Ablenkung während der Arbeit zu nutzen.

Indem Sie bewusste Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit schaffen, geben Sie sowohl Ihrer Arbeit als auch Ihrer Entspannung den Raum und die Aufmerksamkeit, die sie verdienen.

Das Wichtigste in Kürze

  • Das Gefühl der Überforderung beim Streaming ist real und wird durch die „Decision Fatigue“ (Entscheidungsmüdigkeit) verursacht, die durch ein Überangebot an Optionen entsteht.
  • Die Lösung liegt nicht in strengem Verzicht, sondern in aktiver Kuration: Behandeln Sie Ihre Watchlist wie ein persönliches Programm und planen Sie Ihre Streaming-Zeit als bewusstes Ritual.
  • Algorithmen schaffen Filterblasen, die Ihren Horizont verengen. Um kulturell nicht zu verarmen, müssen Sie aktiv nach Inhalten außerhalb der Empfehlungen suchen.

Wie Sie kulturelle Vielfalt gezielt nutzen – um aus Ihrer Filterblase auszubrechen?

Nachdem wir die Mechanismen der Filterblase verstanden haben, lautet die entscheidende Frage: Wie brechen wir aktiv aus ihr aus? Es erfordert eine bewusste Anstrengung, die algorithmischen Trampelpfade zu verlassen und die riesige, unentdeckte Landschaft der Medienwelt zu erkunden. Der erste Schritt ist, die Hoheit über die Empfehlungen zurückzugewinnen. Verlassen Sie sich nicht ausschließlich auf das, was Ihnen auf der Startseite angeboten wird.

Nutzen Sie externe, kuratierte Quellen, um neue Inspiration zu finden. Filmkritik-Websites (wie Rotten Tomatoes oder Metacritic), spezialisierte Blogs, Festivalprogramme (wie die der Berlinale oder des Sundance Film Festival) oder sogar Empfehlungen von Freunden mit einem anderen Geschmack sind Goldminen für Entdeckungen. Erstellen Sie eine „Anti-Filterblasen-Liste“ mit Filmen aus Ländern, deren Kino Sie nicht kennen, oder mit Dokumentationen zu Themen, mit denen Sie sich noch nie beschäftigt haben. Eine Studie der TH Köln zeigt, dass bestimmte Genres wie Comedy, Crime und Fantasy eher zum Binge-Watching verleiten, während Formate wie Dokumentationen oder Familienserien seltener exzessiv konsumiert werden. Wählen Sie also bewusst ein Genre, das Sie normalerweise meiden.

Prof. Dr. Christian Zabel von der TH Köln fasst die psychologische Motivation hinter dem Binge-Watching zusammen und gibt damit einen entscheidenden Hinweis, wie man ihm entgegenwirken kann:

Wir haben herausgefunden, dass vor allem jüngere Menschen bingewatchen, die einem hedonistischen oder eskapistischen Lebensstil zugeneigt sind. Der Wunsch nach Spannung, Spaß und Zeitvertreib ist eng mit diesem Verhalten verbunden. Negativ korreliert ist der Anspruch, etwas über das Weltgeschehen lernen zu wollen.

– Prof. Dr. Christian Zabel, TH Köln

Dieser letzte Satz ist der Schlüssel: Indem Sie Ihren Streaming-Konsum mit dem bewussten Ziel verbinden, etwas zu lernen oder eine neue Perspektive zu gewinnen, verändern Sie Ihre Motivation. Sie wechseln vom passiven Eskapismus zum aktiven Entdecken. Suchen Sie gezielt nach Inhalten, die Sie herausfordern, anstatt nur zu unterhalten.

Um Ihre Medienkompetenz langfristig zu stärken, ist es essenziell, die Methoden zum Ausbruch aus der Filterblase regelmäßig anzuwenden.

Beginnen Sie noch heute damit, eine bewusste Entscheidung zu treffen, bevor Sie auf „Play“ drücken. Fragen Sie sich nicht nur „Worauf habe ich Lust?“, sondern auch „Was könnte meinen Horizont erweitern?“. So wird Streaming von einer Zeitfalle zu einem Fenster zur Welt.

Geschrieben von Katharina Becker, Dr. Katharina Becker ist promovierte Kultursoziologin und Kuratorin mit 11 Jahren Erfahrung in der Vermittlung zeitgenössischer Kultur. Sie arbeitet als freie Kulturberaterin, kuratiert Ausstellungen und Veranstaltungsreihen und publiziert zu Themen wie Medienkonsum, Kulturzugang und gesellschaftliche Trends.