Veröffentlicht am März 15, 2024

Die Jagd nach hohem BIP-Wachstum führt Regionen oft in eine Falle der Fragilität, anstatt sie für die Zukunft zu stärken.

  • Wahre Stärke liegt in ‚Antifragilität‘ – der Fähigkeit, aus Krisen und Volatilität nicht nur unbeschadet hervorzugehen, sondern aktiv von ihnen zu profitieren.
  • Ökonomische Komplexität (die Vielfalt und Einzigartigkeit der produzierten Güter) ist ein weitaus besserer Indikator für langfristige Stabilität als reines Wachstum.

Empfehlung: Fokussieren Sie auf den Aufbau vernetzter, anpassungsfähiger Wirtschaftsökosysteme und die Förderung von Fähigkeiten, anstatt auf isolierte Leuchtturmprojekte oder kurzfristige BIP-Ziele zu setzen.

Wirtschaftspolitiker und Regionalentwickler kennen das Bild: Ein Quartal mit hohem BIP-Wachstum wird gefeiert, neue Arbeitsplätze werden vermeldet und die Region scheint auf einem unaufhaltsamen Erfolgskurs. Die gängigen Rezepte dafür sind bekannt – Diversifizierung der Industrie, Förderung von Innovation und die Ansiedlung großer Unternehmen. Doch die letzten globalen Krisen, von Pandemien bis zu Lieferkettenbrüchen, haben eine schmerzhafte Wahrheit offenbart: Was auf dem Papier wie robustes Wachstum aussieht, erweist sich in der Realität oft als ein fragiles Kartenhaus, das beim ersten starken Windstoß in sich zusammenfällt.

Die reine Konzentration auf das Bruttoinlandsprodukt als oberste Kennzahl verleitet zu Entscheidungen, die kurzfristig beeindruckende Zahlen liefern, aber langfristig systemische Risiken schaffen. Doch was, wenn der wahre Schlüssel zu nachhaltigem Wohlstand nicht darin liegt, Schocks lediglich standzuhalten (Resilienz), sondern darin, eine Wirtschaftsstruktur zu schaffen, die durch Volatilität und Unsicherheit stärker wird? Dieser Ansatz nennt sich **Antifragilität**. Er verschiebt den Fokus von der Vermeidung von Krisen hin zur Schaffung eines Systems, das in der Lage ist, aus dem Chaos zu lernen, sich anzupassen und zu gedeihen.

Dieser Artikel bricht mit der traditionellen Sicht auf Wirtschaftswachstum. Er zeigt, warum die Jagd nach dem BIP eine Falle ist und wie Sie stattdessen durch die Prinzipien der ökonomischen Komplexität und der Antifragilität eine Wirtschaftsregion entwickeln, die nicht nur die nächste Krise übersteht, sondern gestärkt daraus hervorgeht. Wir werden analysieren, welche Strategien wirklich krisenfest machen, wie man typische Wachstumsfallen vermeidet und warum agile Start-ups oft erfolgreicher sind als etablierte Konzerne.


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Um diese Konzepte systematisch zu erschließen, gliedert sich der Artikel in acht zentrale Analyseschritte. Das folgende Inhaltsverzeichnis gibt Ihnen einen Überblick über die Themen, die wir behandeln werden, um ein tiefes Verständnis für den Aufbau zukunftsfähiger Wirtschaftsregionen zu entwickeln.


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Warum hohes BIP-Wachstum oft fragile Wirtschaften schafft – und was stattdessen zählt?

Die Fixierung auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als primären Erfolgsindikator ist eine der größten strategischen Schwächen der modernen Wirtschaftspolitik. Ein hohes BIP-Wachstum kann durch wenige, große Industrien oder sogar durch spekulative Blasen, wie im Immobiliensektor, getrieben sein. Sobald diese eine Säule ins Wanken gerät, bricht die gesamte regionale Wirtschaft zusammen. Das Wachstum war nicht nachhaltig, sondern fragil. Ein weitaus aussagekräftigerer Indikator für die langfristige Gesundheit und Anpassungsfähigkeit einer Wirtschaft ist der **Economic Complexity Index (ECI)**. Er misst nicht nur die Vielfalt der exportierten Produkte einer Region, sondern auch deren Einzigartigkeit und wie viele andere hochkomplexe Länder ähnliche Produkte herstellen.

Eine Wirtschaft mit hoher Komplexität produziert anspruchsvolle Güter, die viel kollektives Wissen erfordern und nicht leicht von anderen nachgeahmt werden können. Dies schafft einen dauerhaften Wettbewerbsvorteil. Deutschland zum Beispiel gehört mit einem ECI-Score von 1,96 weltweit zur Spitzengruppe, was seine robuste industrielle Basis widerspiegelt. Statt also zu fragen „Wie schnell wachsen wir?“, lautet die strategisch klügere Frage: „Wie komplex und einzigartig ist das, was wir produzieren?“.

Fallbeispiel: Japan als Vorbild für wirtschaftliche Komplexität

Japan führt seit Jahren die Rangliste des ECI an. Mit einem Score von 2,27 und Exporten im Wert von über 970 Milliarden Dollar zeigt das Land, wie eine hochgradig diversifizierte und technologisch anspruchsvolle Exportwirtschaft nachhaltiges Wachstum sichert. Anstatt sich auf eine einzige Industrie zu verlassen, verfügt Japan über ein dichtes Netz von Fähigkeiten, das es ihm ermöglicht, komplexe Produkte von Elektronik über Maschinen bis hin zu chemischen Erzeugnissen herzustellen und sich schnell an globale Nachfrageänderungen anzupassen.

Wie Sie resiliente Wirtschaftsstrukturen entwickeln, die Rezessionen zu 70% besser überstehen?

Die meisten Strategien zielen auf Resilienz ab – die Fähigkeit, einem Schock standzuhalten und danach wieder in den Ausgangszustand zurückzukehren. Doch in einer zunehmend unvorhersehbaren Welt ist das nicht genug. Das überlegene Konzept ist **Antifragilität**. Eine antifragile Wirtschaftsstruktur bricht unter Druck nicht nur nicht zusammen, sie wird durch Stress, Volatilität und zufällige Ereignisse sogar stärker. Sie lernt und passt sich an, entdeckt neue Chancen im Chaos und entwickelt so eine überlegene Überlebensfähigkeit. Dies bestätigt auch die Tatsache, dass laut einer Studie von Roland Berger rund 70 % der Unternehmen ihre Resilienzstrategien nach den jüngsten Krisen angepasst haben – der nächste Schritt muss nun der zur Antifragilität sein.

Wie baut man solche Strukturen? Ein zentrales Element ist die bewusste Einführung von **Redundanz und Optionalität**. Statt auf einen einzigen großen Arbeitgeber oder eine einzige Lieferkette zu setzen, fördert ein antifragiles System ein dichtes Netzwerk aus kleineren, agilen Unternehmen, vielfältigen Zulieferern und unterschiedlichen Absatzmärkten. Diese dezentrale Struktur stellt sicher, dass der Ausfall eines Teils nicht das gesamte System lahmlegt. Das Netzwerk kann Schocks absorbieren und sich neu organisieren, ähnlich wie ein biologisches Ökosystem.

Robustheit erfordert eine gewisse Redundanz – so wie auch unser Körper mehrere Organe mit ähnlichen Funktionen hat.

– Nassim Nicholas Taleb, Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen

Dieses vernetzte System ermöglicht es, auf unvorhergesehene Ereignisse nicht nur zu reagieren, sondern proaktiv neue Lösungen zu finden. Wenn ein Lieferant ausfällt, kann ein anderer im Netzwerk einspringen – oder ein lokales Unternehmen entwickelt eine innovative Alternative und schafft damit einen neuen Markt.

Antifragile Wirtschaftsstrukturen als vernetztes System von miteinander verbundenen Federn und Stoßdämpfern.
Geschrieben von Stefan Müller, Stefan Müller ist Diplom-Wirtschaftsingenieur mit Schwerpunkt internationale Logistik und seit 15 Jahren in der strategischen Beratung für globale Lieferketten tätig. Er ist zertifizierter Supply Chain Professional (CSCP) und berät aktuell mittelständische Produktionsunternehmen bei der Risikominimierung in ihren Beschaffungsnetzwerken.