Veröffentlicht am Mai 10, 2024

Die alleinige Jagd nach BIP-Wachstum macht regionale Wirtschaften nicht stärker, sondern fragiler. Echte Krisenfestigkeit entsteht durch den Aufbau eines ökonomischen „Immunsystems“.

  • Statt Großansiedlungen zu subventionieren, stärkt die gezielte Förderung verwurzelter KMU („Economic Gardening“) die lokale Wertschöpfung und Resilienz.
  • Eine intelligente „Barbell-Strategie“ – 80 % in stabile Kernbranchen, 20 % in disruptive Experimente – sichert die Basis und erschließt Zukunftschancen.

Empfehlung: Verlagern Sie den Fokus von reinen Wachstumsraten auf qualitative Indikatoren wie lokale Reinvestitionsquoten und die Anpassungsfähigkeit Ihrer Wirtschaftsstruktur.

Jahrelang schien die Formel für regionalen Erfolg einfach: Steigendes Bruttoinlandsprodukt (BIP), neue Unternehmensansiedlungen und sinkende Arbeitslosenzahlen galten als unumstößliche Beweise für eine florierende Wirtschaft. Doch die jüngsten Krisen – von Pandemien über Lieferkettenbrüche bis hin zu geopolitischen Schocks – haben dieses Paradigma erschüttert. Regionen, die gestern noch als Wachstumschampions gefeiert wurden, zeigten sich plötzlich alarmierend verwundbar. Die traditionelle Wirtschaftsförderung, die oft einer „Großwildjagd“ nach internationalen Konzernen glich, entpuppte sich als riskante Wette, bei der Gewinne privatisiert und Risiken sozialisiert werden.

Dieses Modell hat seine Grenzen erreicht. Der alleinige Fokus auf quantitative Kennzahlen verschleiert fundamentale Schwächen: eine hohe Abhängigkeit von einzelnen Branchen, der Abfluss von Kapital aus der Region und eine geringe Anpassungsfähigkeit an unvorhergesehene Ereignisse. Aber wenn das blinde Streben nach BIP-Wachstum in eine Sackgasse führt, was ist die Alternative? Die Antwort liegt in einem radikalen Perspektivwechsel. Es geht nicht mehr darum, um jeden Preis zu wachsen, sondern darum, ein robustes ökonomisches „Immunsystem“ zu kultivieren. Die entscheidende Frage lautet nicht mehr: „Wie schnell wachsen wir?“, sondern: „Wie gesund und anpassungsfähig ist unsere Wirtschaftsstruktur?“

Dieser Artikel skizziert einen pragmatischen, evidenzbasierten Rahmen für Wirtschaftspolitiker und Regionalentwickler. Er zeigt, wie Sie den Fokus von fragilen Wachstumsmetriken auf den Aufbau echter ökonomischer Resilienz verlagern können. Wir analysieren, welche Strategien Regionen nachweislich krisenfester machen, wie man typische Wachstumsfallen vermeidet und traditionelle Industriestandorte erfolgreich in die Zukunft führt. Ziel ist es, ein Wirtschaftsmodell zu etablieren, das nicht beim nächsten Schock kollabiert, sondern gestärkt daraus hervorgeht.

Dieser Leitfaden ist strukturiert, um Ihnen einen klaren Weg von der Problemanalyse zur praktischen Umsetzung aufzuzeigen. Entdecken Sie die entscheidenden Hebel für eine zukunftsfähige und krisenfeste Regionalentwicklung.

Warum hohes BIP-Wachstum oft fragile Wirtschaften schafft – und was stattdessen zählt?

Die Fixierung auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) als primären Erfolgsindikator ist eines der größten Dogmen der modernen Wirtschaftspolitik. Zwar suggeriert ein hohes BIP-Wachstum Wohlstand, doch die Realität ist komplexer und oft trügerisch. Die deutsche Wirtschaft selbst, lange als Konjunkturlokomotive Europas gefeiert, illustriert diese Brüchigkeit. Prognosen des Statistischen Bundesamtes deuten auf einen leichten BIP-Rückgang für 2024 hin, was die Anfälligkeit für globale Schocks verdeutlicht. Das Problem des BIP ist, dass es nicht misst, was wirklich zählt: die Verteilung des Wohlstands, die ökologischen Kosten des Wachstums oder die Resilienz der Wirtschaftsstruktur.

Ein hohes Wachstum, das auf wenigen, volatilen Sektoren oder dem Abfluss von Gewinnen an externe Konzerne basiert, schafft keine nachhaltige Stabilität. Es erzeugt eine Fassade des Erfolgs, die bei der nächsten Krise einstürzt. Daher ist ein Paradigmenwechsel dringend erforderlich – weg von der reinen Quantität hin zur Qualität des Wachstums. Alternative Modelle wie die Donut-Ökonomie, die von Kate Raworth populär gemacht wurde, bieten hierfür einen wertvollen konzeptionellen Rahmen. Dieses Modell definiert einen „sicheren und gerechten Raum für die Menschheit“, der zwischen einem sozialen Fundament (Mindeststandards für alle) und einer ökologischen Decke (den planetaren Grenzen) liegt. Das Ziel der Wirtschaft ist es nicht mehr, unendlich zu wachsen, sondern den Wohlstand innerhalb dieses Donuts zu gewährleisten.

Für die Regionalentwicklung bedeutet dies, den Fokus auf Indikatoren zu legen, die die Gesundheit des ökonomischen „Immunsystems“ widerspiegeln. Statt nur auf das BIP zu blicken, sollten Planer die Einkommensverteilung (z.B. Gini-Koeffizient), den Anteil der lokalen Wertschöpfung, der in der Region reinvestiert wird, oder die demografische Tragfähigkeit (z.B. Wanderungssaldo junger Fachkräfte) analysieren. Diese Metriken geben ein weitaus ehrlicheres Bild von der tatsächlichen, langfristigen Lebensfähigkeit einer regionalen Wirtschaft.

Wie Sie resiliente Wirtschaftsstrukturen entwickeln, die Rezessionen zu 70% besser überstehen?

Ökonomische Resilienz ist die Fähigkeit einer Region, Schocks nicht nur zu überstehen, sondern sich auch anzupassen und idealerweise gestärkt daraus hervorzugehen. Sie ist das Kernstück eines funktionierenden Wirtschafts-Immunsystems. Es geht darum, eine Struktur zu schaffen, die nicht wie ein starres Gebilde beim ersten Sturm bricht, sondern flexibel und modular reagieren kann. Eine solche Struktur basiert weniger auf der Größe einzelner Unternehmen als auf der Dichte und Qualität der Verbindungen zwischen ihnen.

Modulares Wirtschaftsnetzwerk mit dezentralen Verbindungen als Symbol für resiliente Wirtschaftsstrukturen

Wie das dargestellte Netzwerk symbolisiert, zeichnet sich eine resiliente Wirtschaft durch ein dezentrales, dicht verknüpftes Geflecht vielfältiger Akteure aus. Diese „ökonomische Verwurzelung“ ist der entscheidende Faktor. Statt auf die Ansiedlung von „Großwild“ – also externen Großkonzernen – zu setzen, fokussiert sich eine resiliente Strategie auf „Economic Gardening“. Dieser Ansatz pflegt und unterstützt gezielt die bereits vorhandenen, lokalen kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) in ihrer Wachstumsphase. Der Vorteil ist evident: Lokale Unternehmen reinvestieren ihre Gewinne eher vor Ort, sind stärker mit der Gemeinschaft verbunden und bauen stabilere lokale Lieferketten auf.

Der folgende Vergleich macht den strategischen Unterschied deutlich. Er zeigt, warum der Fokus auf die Pflege des Bestehenden langfristig stabileres Wachstum verspricht als die Jagd nach dem nächsten großen Investor.

Economic Gardening vs. Traditionelle ‚Großwildjagd‘
Strategie Economic Gardening Traditionelle ‚Großwildjagd‘
Fokus Lokale KMUs in Wachstumsphase Ansiedlung von Großkonzernen
Verwurzelung Stark lokal verankert Geringe lokale Bindung
Gewinnverwendung Reinvestition vor Ort Abfluss zu Konzernzentralen
Krisenresilienz Hoch durch Diversität Niedrig bei Konzernrückzug

Diese Strategie bedeutet nicht, sich von der globalen Wirtschaft abzukoppeln. Vielmehr geht es darum, eine starke, autarke Basis zu schaffen, die als Puffer gegen externe Volatilität dient. Regionen mit einer hohen Dichte an innovationsstarken, verwurzelten KMU, wie sie etwa im deutschen Maschinenbau zu finden sind, zeigen empirisch eine höhere Widerstandsfähigkeit in Krisenzeiten.

Diversifizierung versus Spezialisierung – welche Strategie macht Regionen krisenfester?

Die Frage, ob eine Region auf wenige, hochprofitable Branchen setzen (Spezialisierung) oder ihre Wirtschaft möglichst breit aufstellen sollte (Diversifizierung), ist ein klassisches Dilemma der Regionalentwicklung. Die pauschale Antwort „Diversifizierung ist immer besser“ greift jedoch zu kurz. Die empirische Evidenz zeichnet ein differenzierteres Bild. Eine Analyse von KfW Research liefert hierzu eine klare Einsicht, die als Leitlinie dienen kann.

Besonders ein breit diversifiziertes Wirtschaftsportfolio verstärkt die Resilienz von Regionen. Spezialisierung wirkt sich nur positiv aus, wenn es sich dabei um besonders dynamische Sektoren handelt.

– KfW Research, Analyse regionaler Risiko- und Resilienzfaktoren in Deutschland

Die Kunst besteht also darin, nicht wahllos zu diversifizieren, sondern eine intelligente Balance zu finden. Das Konzept der „Smart Specialisation“ bietet hierfür einen Lösungsansatz. Es geht nicht darum, in völlig fremden Feldern zu wildern, sondern darum, auf bestehenden Stärken aufzubauen und verwandte, wissensintensive Branchen zu entwickeln. Eine Region mit Expertise in der Metallverarbeitung könnte sich beispielsweise auf Medizintechnik oder Leichtbau für die Luft- und Raumfahrt spezialisieren. Der Schlüssel ist die Konzentration auf wissensintensive Dienstleistungen und Hightech-Fertigung, da diese Bereiche eine höhere Wertschöpfung und Anpassungsfähigkeit versprechen.

Ein äußerst pragmatisches Modell zur Umsetzung dieser Balance ist die „Barbell-Strategie“ (Hantel-Strategie). Sie vermeidet die riskante Mitte und investiert stattdessen in zwei Extreme: einen sehr sicheren, robusten Kern und einen kleinen, aber chancenreichen, spekulativen Teil. Auf die Regionalwirtschaft übertragen, bedeutet dies, den Großteil der Ressourcen in die Modernisierung und Stabilisierung der etablierten, profitablen Kernindustrien zu lenken, während ein kleinerer Teil gezielt in hochriskante, aber potenziell disruptive Start-ups und Forschungsprojekte fließt. Dies schafft Stabilität und Zukunftschancen zugleich.

Ihr Aktionsplan: Die Barbell-Strategie für Ihre Region

  1. Ressourcenallokation definieren: Investieren Sie ca. 80 % der Fördergelder in die Modernisierung und Digitalisierung Ihrer traditionellen Kernindustrien, um die Basis robust zu halten.
  2. Wachstumspotenziale heben: Allokieren Sie die restlichen 20 % gezielt in hochriskante, innovative Start-ups und Forschungsprojekte mit disruptivem Potenzial.
  3. Vergessene Sektoren aufwerten: Analysieren und digitalisieren Sie strategisch Low-Tech-Sektoren (z.B. Handwerk, Landwirtschaft), da diese oft eine hohe lokale Verwurzelung haben.
  4. Kreisläufe schließen: Etablieren Sie die Kreislaufwirtschaft als stabilisierendes Element, das Rohstoffabhängigkeiten reduziert und neue Geschäftsmodelle schafft.
  5. Fähigkeiten statt Branchen fördern: Setzen Sie auf die Förderung von branchenübergreifenden Kompetenzen (z.B. Datenanalyse, Materialwissenschaft), die in verschiedenen Sektoren anwendbar sind.

Diese strategische Aufteilung minimiert das Gesamtrisiko. Sollten die riskanten Wetten scheitern, sorgt der stabile Kern für Kontinuität. Gelingt jedoch ein Durchbruch im innovativen Bereich, kann dieser die gesamte regionale Wirtschaft auf ein neues Niveau heben.

Die Wachstumsfalle, in die 60% der boomenden Regionen tappen – und wie Sie sie vermeiden

Paradoxerweise kann gerade der Erfolg eine Region in eine gefährliche Falle locken. Die „Wachstumsfalle“ beschreibt ein Phänomen, bei dem eine boomende Wirtschaft Strukturen entwickelt, die langfristig ihre eigene Resilienz untergraben. Ein aktuelles Beispiel ist der Zusammenhang zwischen ökologischer Transformation und Wirtschaftswachstum. Eine Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2024 zeigt, dass Regionen mit starken Emissionsreduktionen bislang tendenziell ein geringeres Wirtschaftswachstum aufwiesen. Dies ist oft kein Zeichen für Effizienz, sondern für Deindustrialisierung.

Das Ruhrgebiet dient hier als warnendes Beispiel: Die gefeierte Dekarbonisierung war zu einem großen Teil das Ergebnis des Schrumpfens emissionsintensiver Industrien wie Kohle und Stahl, was mit dem Verlust von Arbeitsplätzen und Wertschöpfung einherging. Die Wachstumsfalle besteht darin, einen Indikator (z.B. CO₂-Reduktion) zu optimieren, ohne die systemischen Konsequenzen für die Wirtschaftsstruktur zu berücksichtigen. Ein weiteres Symptom der Falle ist die Abhängigkeit von spekulativem Kapital. Regionen, die stark auf kurzfristige Investitionen von außen setzen, erleben oft einen schnellen Boom, gefolgt von einem ebenso schnellen Absturz, wenn das Kapital bei den ersten Anzeichen einer Krise wieder abfließt.

Der Schlüssel zur Vermeidung dieser Falle liegt in der Art des Kapitals, das eine Region anzieht und fördert. Der Unterschied zwischen „geduldigem“ und „spekulativem“ Kapital ist hierbei von entscheidender Bedeutung für eine nachhaltige Entwicklung.

Geduldiges vs. Spekulatives Kapital
Merkmal Geduldiges Kapital Spekulatives Kapital
Investoren Pensionsfonds, Family Offices Hedgefonds, Private Equity
Zeithorizont 10-20 Jahre 2-5 Jahre
Strategie Langfristige Stabilität Kurzfristige Gewinnmitnahme
Auswirkung auf Region Nachhaltige Entwicklung Aushöhlen der Substanz

Um die Wachstumsfalle zu umgehen, müssen Regionalentwickler proaktiv eine Politik verfolgen, die geduldiges Kapital anzieht. Dies kann durch die Schaffung verlässlicher rechtlicher Rahmenbedingungen, die Förderung von Geschäftsmodellen mit langfristigem Horizont (z.B. in der Infrastruktur oder Kreislaufwirtschaft) und die Unterstützung von eigentümergeführten Unternehmen und Genossenschaften geschehen. Es geht darum, ein Ökosystem zu schaffen, in dem Investoren belohnt werden, die sich zur langfristigen Entwicklung der Region bekennen, anstatt jene zu bevorzugen, die nur auf schnelle Profite aus sind.

So transformieren Sie traditionelle Industrieregionen in zukunftsfähige Wirtschaftsstandorte

Die Transformation alter Industrieregionen ist eine der größten Herausforderungen der modernen Wirtschaftspolitik. Der übliche Ansatz, der auf dem Abriss alter Strukturen und dem Versuch basiert, Hightech-Cluster aus dem Nichts zu erschaffen, scheitert oft. Er ignoriert das wertvollste Kapital dieser Regionen: ihr Erbe. Ein weitaus erfolgreicherer Ansatz ist das „Asset-Based Community Development“ (ABCD). Anstatt sich auf die Defizite zu konzentrieren (was fehlt?), identifiziert diese Strategie die vorhandenen, oft verborgenen Vermögenswerte (Assets) – seien es Infrastruktur, Fachwissen oder kulturelle Identität – und baut darauf auf.

Dieser Ansatz bedeutet, die Transformation als einen Prozess der Umnutzung und Weiterentwicklung zu begreifen, nicht als einen des radikalen Bruchs. Es geht darum, die „DNA“ der Region zu entschlüsseln und für die Zukunft neu zu kodieren. Der Wandel vom Stahlarbeiter zum Windrad-Techniker ist hierfür ein starkes Symbol. Es werden nicht nur Arbeitsplätze geschaffen, sondern es wird vorhandenes technisches Verständnis in einen neuen Kontext überführt.

Transformation einer Industrieregion, bei der ein Arbeiter an moderner Technologie für erneuerbare Energien arbeitet

Die praktische Umsetzung dieses Prinzips kann vielfältige Formen annehmen. Das „Legacy to Lab“-Konzept beschreibt diesen Übergang treffend. Konkret bedeutet dies, alte Bergwerkstollen für Geothermie oder Vertical Farming umzunutzen, anstatt sie nur zu fluten. Es bedeutet, das prozessuale Know-how von Chemie-Facharbeitern für die Entwicklung nachhaltiger Materialien zu mobilisieren oder die enorme Erfahrung pensionierter Ingenieure in Mentoring-Programmen für Start-ups zu aktivieren. Ehemalige Industrieareale können so zu Hubs für Remanufacturing und Kreislaufwirtschaft werden, wo aus alten Produkten neue Rohstoffe entstehen. Dieser Ansatz stärkt nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die regionale Identität und den sozialen Zusammenhalt, da die Menschen sehen, dass ihre Geschichte und ihre Fähigkeiten wertgeschätzt und in die Zukunft getragen werden.

Der Erfolg liegt darin, die Brücke zwischen dem industriellen Erbe und den technologischen Möglichkeiten von morgen zu schlagen. Dies erfordert Kreativität und den Willen, in den eigenen Beständen nach Gold zu schürfen, anstatt es nur von außen importieren zu wollen. Die Zukunft solcher Regionen liegt in der intelligenten Veredelung ihrer Vergangenheit.

Inkrementelle versus disruptive Innovation – welche Art bedroht wirklich Ihre Marktposition?

Im Diskurs um Innovation wird oft ein überproportionaler Fokus auf disruptive, bahnbrechende Erfindungen gelegt – das nächste „Uber“ oder „Airbnb“. Für die Stabilität einer regionalen Wirtschaft ist diese Sichtweise jedoch gefährlich einseitig. Während disruptive Innovationen ganze Märkte umkrempeln können, ist es oft das stetige Fehlen inkrementeller Innovationen – also die kontinuierliche, schrittweise Verbesserung von Produkten, Prozessen und Dienstleistungen –, das die Wettbewerbsfähigkeit einer Region langfristig aushöhlt.

Für ein resilientes Wirtschafts-Immunsystem ist beides notwendig. Die bereits erwähnte „Barbell-Strategie“ lässt sich auch auf das Innovationsportfolio anwenden. Empirische Analysen deuten darauf hin, dass eine 80/20-Regel ein guter Richtwert ist: 80 % der Innovationsförderung sollten in die Stärkung der inkrementellen Innovationskraft der etablierten Unternehmen fließen, während 20 % für radikale, disruptive Projekte reserviert werden. Regionen, die eine stark technologisch wissensbasierte Beschäftigungsstruktur aufweisen, sind nachweislich resilienter, da sie die Fähigkeit zur kontinuierlichen Anpassung in ihrer DNA tragen.

Die eigentliche Bedrohung für eine etablierte Marktposition ist nicht der plötzliche disruptive Schock von außen, sondern die innere Stagnation. Unternehmen und Regionen, die aufhören, ihre bestehenden Prozesse jeden Tag ein kleines bisschen besser zu machen, werden langsam irrelevant und sind dann leichte Beute für neue Wettbewerber. Disruptive Angreifer haben oft nur deshalb Erfolg, weil die etablierten Akteure über Jahre hinweg unzählige kleine Verbesserungschancen ignoriert haben. Die Förderung einer Kultur der kontinuierlichen Verbesserung in den Kernbranchen ist daher die beste Verteidigung.

Resilienz steht für einen ‚Perspektivwechsel‘ hin zu Fragen der Widerstands- und Anpassungsfähigkeit und des ‚ökonomischen Selbstschutzes‘. Manche sprechen hier auch bereits von der ’neuen Nachhaltigkeit‘, insofern Resilienz zum neuen Leitbegriff im Sinne vieler ‚kleiner Transformationen‘ vor Ort werden könnte.

– ResearchGate, Regionale Resilienz als alternative ökonomische Perspektive

Diese „kleinen Transformationen“ sind das tägliche Training des ökonomischen Immunsystems. Sie härten die Wirtschaft ab und machen sie fit für den Wettbewerb. Eine Politik, die nur nach dem nächsten disruptiven Champion sucht und dabei die Optimierung des Bestehenden vernachlässigt, schafft ein unausgewogenes und letztlich fragiles Innovationsökosystem.

Das Wichtigste in Kürze

  • Vom BIP zur Resilienz: Verlagern Sie den politischen Fokus von der reinen Jagd nach Wachstumsraten auf den Aufbau eines ökonomischen „Immunsystems“, das auf Anpassungsfähigkeit und lokaler Wertschöpfung basiert.
  • „Economic Gardening“ statt „Großwildjagd“: Stärken Sie gezielt lokal verwurzelte KMU, da diese Gewinne reinvestieren und stabilere Strukturen schaffen als volatile Großansiedlungen.
  • Intelligente Balance durch „Barbell-Strategie“: Investieren Sie 80 % der Ressourcen in die Modernisierung Ihrer stabilen Kernbranchen und 20 % in disruptive Experimente, um Sicherheit mit Zukunftschancen zu verbinden.

Plattform-Modell oder Produkt-Modell – welches lässt sich schneller an Krisen anpassen?

Die traditionelle Wirtschaft basiert auf einem Produkt-Modell: Ein Unternehmen stellt ein Gut oder eine Dienstleistung her und verkauft sie. In der digitalen Ökonomie gewinnt jedoch das Plattform-Modell zunehmend an Bedeutung. Plattformen stellen nicht selbst Produkte her, sondern sie orchestrieren den Austausch zwischen verschiedenen Nutzergruppen (z.B. Fahrer und Fahrgäste bei Uber, Anbieter und Urlauber bei Airbnb). Für die regionale Resilienz ist dieser Unterschied fundamental, denn Plattformen besitzen eine weitaus höhere strukturelle Elastizität.

Während ein produzierendes Unternehmen bei einem Nachfrageeinbruch seine Fabriken herunterfahren muss, kann eine Plattform ihr Angebot viel schneller an neue Gegebenheiten anpassen. Sie kann neue Nutzergruppen erschließen, die Regeln des Marktplatzes ändern oder neue Arten von Interaktionen ermöglichen. Dieses Prinzip lässt sich auf die Regionalentwicklung übertragen: Eine Region kann sich selbst als „Betriebssystem“ oder Plattform verstehen, die nicht versucht, alles selbst zu produzieren, sondern die optimalen Bedingungen für Austausch, Kooperation und Innovation zwischen den lokalen Akteuren schafft. Resilienz wird so zu einem kontinuierlichen Prozess der Gestaltung und des Lernens, nicht zu einem fixen Zielzustand.

Allerdings sind nicht alle Plattformen gleich. Für eine Region ist es entscheidend, welche Art von Plattform-Governance sie fördert. Zentralisierte, profitorientierte Modelle wie Uber neigen in Krisen dazu, sich egoistisch zu verhalten und Wert aus der Region abzuziehen. Dezentrale, genossenschaftliche Modelle („Platform Cooperatives“) hingegen sind gemeinschaftsorientiert und stärken die lokale Bindung, da die Nutzer gleichzeitig die Eigentümer sind. Ihre Governance ist auf langfristige Stabilität und den Nutzen der Gemeinschaft ausgerichtet, was sie zu einem stabilisierenden Faktor für die regionale Wirtschaft macht. Die Förderung solcher Modelle kann ein strategischer Hebel sein, um die Vorteile der Plattform-Ökonomie zu nutzen, ohne deren Nachteile – wie die Extraktion von Wert – zu importieren.

Letztlich bietet das Denken in Plattform-Modellen eine höhere strategische Flexibilität. Es erlaubt einer Region, schneller auf Veränderungen zu reagieren, neue Ressourcen zu mobilisieren und ihre Wirtschaftsstruktur dynamisch anzupassen, anstatt in starren, produktbasierten Silos gefangen zu sein.

Warum Start-ups in 5 Jahren Märkte erobern, an denen Konzerne 20 Jahre scheitern?

Die Agilität von Start-ups im Vergleich zur Trägheit von Konzernen ist ein bekanntes Phänomen. Die Ursachen liegen oft tief in den Strukturen. Konzerne sind durch ihre komplexen, globalen Wertschöpfungsketten optimiert auf Effizienz, aber nicht auf Anpassungsfähigkeit. Eine Prognos-Analyse aus dem Jahr 2024 zeigt, dass die Importabhängigkeit deutscher Unternehmen in vielen Branchen in den letzten Jahren sogar noch gewachsen ist. Diese Abhängigkeit macht sie verwundbar für geopolitische Schocks oder Logistikkrisen. Start-ups hingegen operieren mit kürzeren, oft lokaleren Ketten und können ihre Strategie bei Bedarf radikal ändern. Sie sind nicht durch bestehende Prozesse oder ein riesiges Erbe belastet.

Dieser Unterschied ist jedoch kein Naturgesetz, sondern eine Frage der inneren Haltung und des Fokus. Es geht um einen fundamentalen „Mind-Shift“, weg von der reinen Optimierung hin zur Bereitschaft zur Anpassung. Der Ökonom Christian Förster fasst diesen Gedanken prägnant zusammen:

Resilienz stellt einen fundamentalen Mind-Shift dar, von der unbelehrbaren Fokussierung auf Schlüsselwerte und Ziele (wie Wirtschaftswachstum) hin zu einer demütigen Reflexion der eigenen Handlungen und der Bereitschaft neue Wege zu gehen.

– Christian Förster, Die regionale Resilienz

Genau diese „demütige Reflexion“ fällt Konzernen schwer, während sie die Existenzgrundlage von Start-ups ist. Für eine Region bedeutet dies, dass sie nicht auf einen der beiden Akteure allein setzen kann. Weder die stabilitätsorientierten, aber trägen Konzerne noch die agilen, aber volatilen Start-ups können allein eine resiliente Wirtschaft garantieren. Die Lösung liegt in der intelligenten Orchestrierung der Kollaboration zwischen beiden Welten. Hier kann die Regionalentwicklung die entscheidende Rolle des „Ökosystem-Dirigenten“ einnehmen.

Ihre Aufgabe ist es, neutrale Räume zu schaffen, in denen beide Kulturen voneinander lernen und profitieren können. Dies kann durch die Etablierung von Innovation-Labs als geschützte Kooperationsräume, die Organisation systematischer Partnerschaftsprogramme oder die gemeinsame Definition von Pilotprojekten mit klaren Erfolgskriterien geschehen. Indem die Region die Stärken beider Akteure – die Marktmacht und Prozessexpertise der Konzerne und die Agilität und den unkonventionellen Denkansatz der Start-ups – strategisch kombiniert, entsteht ein Ökosystem, das weitaus widerstandsfähiger und innovativer ist als die Summe seiner Teile.

Der Aufbau einer solchen resilienten, anpassungsfähigen Wirtschaft ist kein kurzfristiges Projekt, sondern eine strategische Neuausrichtung. Es erfordert Mut, alte Denkmuster zu verlassen und den Erfolg Ihrer Region an neuen, qualitativen Maßstäben zu messen. Beginnen Sie noch heute damit, das ökonomische Immunsystem Ihrer Region zu analysieren und gezielt zu stärken.

Geschrieben von Stefan Müller, Stefan Müller ist Diplom-Wirtschaftsingenieur mit Schwerpunkt internationale Logistik und seit 15 Jahren in der strategischen Beratung für globale Lieferketten tätig. Er ist zertifizierter Supply Chain Professional (CSCP) und berät aktuell mittelständische Produktionsunternehmen bei der Risikominimierung in ihren Beschaffungsnetzwerken.