Veröffentlicht am November 21, 2024

Etablierte Unternehmen scheitern an Disruption nicht, weil sie zu langsam sind, sondern weil sie zu gut darin sind, ihr aktuelles, profitables Geschäft zu optimieren.

  • Der Fokus auf die profitabelsten Bestandskunden macht Konzerne blind für neue, anfangs unattraktive Märkte, in denen Start-ups Fuß fassen.
  • Erfolgskennzahlen (KPIs), die auf Effizienz und Margenoptimierung ausgelegt sind, bestrafen radikale Innovationen systematisch.

Empfehlung: Entwickeln Sie organisatorische Frühwarnsysteme, um disruptive Signale außerhalb Ihrer Kernmärkte zu erkennen und zu bewerten, bevor es zu spät ist.

Es ist ein Szenario, das sich in Vorstandsetagen weltweit wiederholt: Ein kleines, unbekanntes Start-up taucht am Rande des eigenen Marktes auf. Zuerst wird es belächelt, sein Produkt als minderwertig oder als Nischenlösung abgetan. Doch fünf Jahre später hat dieses Start-up nicht nur die Nische erobert, sondern die fundamentalen Spielregeln der gesamten Branche neu geschrieben, während der etablierte Gigant, der den Markt 20 Jahre lang dominierte, um seine Existenz kämpft.

Die üblichen Erklärungen sind schnell zur Hand: Start-ups seien agiler, risikofreudiger und hätten eine bessere „Kultur“. Konzerne hingegen seien schwerfällige Tanker, gefangen in Bürokratie und Silodenken. Diese Erklärungen sind zwar nicht falsch, aber sie kratzen nur an der Oberfläche. Sie beschreiben Symptome, nicht die eigentliche Krankheit. Denn die wahre Ursache für das Scheitern ist weitaus subtiler und paradoxer: Konzerne scheitern nicht trotz ihres Erfolgs, sondern wegen ihres Erfolgs.

Der Kern des Problems liegt in einer tief verwurzelten operativen Blindheit. Ein System aus Prozessen, Anreizen und Kennzahlen, das über Jahre perfektioniert wurde, um das bestehende Geschäftsmodell zu optimieren, wird zur tödlichen Falle, wenn eine disruptive Veränderung am Horizont auftaucht. Es ist die Logik des Erfolgs von gestern, die die Innovation von morgen verhindert. Die entscheidende Frage ist also nicht: „Wie können wir schneller werden?“, sondern: „Wie können wir unsere eigene, erfolgsbedingte Blindheit überwinden?“

Dieser Artikel taucht tief in die Mechanismen ein, die diesem Phänomen zugrunde liegen. Wir werden analysieren, warum etablierte Strukturen radikale Innovationen systematisch ausbremsen, wie man die wahren disruptiven Bedrohungen von bloßem Lärm unterscheidet und welche konkreten, strategischen Schritte Sie unternehmen können, um Ihr Geschäftsmodell nicht nur zu schützen, sondern es für die nächste Welle der Disruption zu wappnen.

Warum etablierte Unternehmen bei radikalen Innovationen fast immer zu langsam reagieren?

Die Metapher des „schwerfälligen Tankers“ gegenüber dem „wendigen Schnellboot“ ist ein oft bemühtes Bild, um den Unterschied zwischen Konzernen und Start-ups zu beschreiben. Doch die Trägheit ist nur ein Symptom, nicht die Ursache. Die wahre Bremse ist ein psychologisches und organisatorisches Phänomen: die Innovationsblockade durch Erfolg. Unternehmen, die über Jahrzehnte erfolgreich waren, entwickeln eine Kultur, die darauf optimiert ist, Risiken zu minimieren und das bestehende Geschäftsmodell zu perfektionieren. Jeder Prozess, von der Budgetierung bis zur Leistungsbeurteilung, ist darauf ausgelegt, Vorhersehbarkeit zu maximieren – das exakte Gegenteil dessen, was radikale Innovation erfordert.

Diese systemische Risikovermeidung führt dazu, dass vielversprechende, aber unsichere Ideen in den Mühlen der Bürokratie zermahlen werden. Währenddessen agieren Start-ups in einem völlig anderen Ökosystem. Sie sind nicht durch bestehende Einnahmequellen oder Kundenstämme belastet und können sich voll und ganz auf eine einzige, kühne Vision konzentrieren. Dieses Umfeld wird durch ein massives externes Ökosystem aus Risikokapital angetrieben, das bereit ist, auf potenziell disruptive Ideen zu wetten. Allein in Deutschland sammelten Start-ups im Jahr 2024 ein Investitionsvolumen von über 7 Milliarden Euro, was die enorme Feuerkraft dieser neuen Wettbewerber unterstreicht.

Das klassische Beispiel von Kodak illustriert diese operative Blindheit perfekt. Kodak hat die Digitalkamera sogar erfunden, sah aber keine Möglichkeit, damit die hohen Margen ihres Filmgeschäfts zu erzielen. Sie bewerteten die neue Technologie durch die Brille ihres alten Erfolgsmodells und verpassten so den Wandel komplett. Sie waren nicht zu dumm oder zu langsam, um die Technologie zu verstehen – ihr eigenes Erfolgssystem hat sie daran gehindert, darauf zu reagieren.

Die wahre Herausforderung für Konzerne liegt also nicht darin, schneller zu werden, sondern darin, Räume zu schaffen, in denen neue Ideen außerhalb der dominanten Geschäftslogik bewertet und entwickelt werden können. Es geht darum, die Fesseln des eigenen Erfolgs zu erkennen und gezielt zu lockern.

Wie Konzerne die Innovationskraft von Start-ups nutzen können – ohne sie zu ersticken?

Die naheliegendste Lösung für das Innovationsdilemma scheint die Kooperation mit Start-ups zu sein. Beteiligungen, Übernahmen oder gemeinsame Projekte versprechen einen direkten Zugang zu neuen Technologien und agilen Teams. Wie Verena Pausder, Vorsitzende des Startup-Verbands, betont, ist dies einer der wichtigsten Wege für Unternehmen, um innovativ zu bleiben.

Die Zusammenarbeit mit Startups, Beteiligungen durch Corporates oder Übernahmen gehören zu den wichtigsten Wegen für Unternehmen, um innovativ zu sein – doch leider haben das noch nicht alle Unternehmen in Deutschland erkannt.

– Verena Pausder, Vorsitzende Startup-Verband

Doch die Realität ist kompliziert. Die Zahl der Kooperationen ist sogar rückläufig: Der Deutsche Startup Monitor 2024 zeigt, dass nur noch 61,9 % der Start-ups in Kooperationsprojekten aktiv waren, verglichen mit 71,8 % im Jahr 2020. Der Grund ist oft ein „kultureller Todeskuss“: Der Konzern versucht, dem Start-up seine eigenen Prozesse, Berichtspflichten und Compliance-Regeln überzustülpen und erstickt damit genau die Agilität und Kreativität, die er eigentlich einkaufen wollte.

Erfolgreiche Kooperationen erfordern daher eine bewusste organisatorische Distanz. Anstatt das Start-up vollständig zu integrieren, sollten Konzerne es als eine Art Satellit behandeln. Dies kann durch folgende Ansätze gelingen:

  • Autonome Innovation-Hubs: Schaffen Sie separate Einheiten oder Tochtergesellschaften, die nach den Regeln von Start-ups arbeiten dürfen – mit eigenen Budgets, eigenen KPIs und ohne die Last der Konzernbürokratie.
  • Klar definierte Schnittstellen: Anstatt einer vollständigen Integration, definieren Sie klare „Andockpunkte“. Das kann eine API sein, über die das Start-up auf Konzerndaten zugreift, oder ein klar definierter Vertriebskanal.
  • Fokussierte Projektziele: Statt vager „Innovationspartnerschaften“ sollten konkrete, messbare Ziele für die Zusammenarbeit definiert werden, z. B. die Entwicklung eines Prototyps in sechs Monaten oder die Erschließung eines spezifischen Kundensegments.

Der Schlüssel liegt darin, das Start-up nicht als Lieferanten, sondern als Partner auf Augenhöhe zu behandeln und ihm den Freiraum zu geben, den es zum Überleben und Wachsen braucht. Es geht um eine Symbiose, nicht um eine feindliche Übernahme der Kultur.

Inkrementelle versus disruptive Innovation – welche Art bedroht wirklich Ihre Marktposition?

Nicht jede Innovation ist eine existenzielle Bedrohung. Um strategisch klug zu handeln, müssen Unternehmen zwischen zwei grundlegend verschiedenen Arten von Innovation unterscheiden: der inkrementellen und der disruptiven. Die inkrementelle Innovation ist die Kunst, bestehende Produkte und Dienstleistungen schrittweise besser, schneller oder günstiger zu machen. Es ist das Kerngeschäft etablierter Unternehmen – das iPhone 15 ist besser als das iPhone 14, der neue VW Golf ist effizienter als der alte. Diese Art der Innovation ist wichtig, um wettbewerbsfähig zu bleiben, aber sie stellt das Geschäftsmodell nicht infrage.

Visueller Kontrast zwischen gradueller Verbesserung und radikalem Wandel in der Innovation
Geschrieben von Michael Hoffmann, Michael Hoffmann ist Diplom-Pädagoge und zertifizierter Karriereberater mit 13 Jahren Erfahrung in der beruflichen Orientierung und Weiterbildungsberatung. Er leitet aktuell eine Beratungsagentur für Karrierewechsel und digitale Kompetenzentwicklung und ist spezialisiert auf Transformationsberufe und lebenslanges Lernen.